Erste Werke
Polonaise in g-moll & Polonaise in B-Dur
Der kleine Chopin komponierte 1817 zwei Polonaisen in g-moll und B-Dur, die
sein Vater Mikolaj Chopin aufschrieb. Die Qualität dieser beiden Werke ist
angesichts des Alters des Komponisten außergewöhnlich. Sie zeigen nicht nur,
dass der siebenjährige "Fryck" schon ausgezeichnet die Konventionen
und Mittel beherrschte, derer sich die Komponisten jener stilisierter Tänze
bedienten, sondern sie lassen bereits einen Funken seines außergewöhnlichen
Talents erkennen. Wären diese beiden Kompositionen etwas aus der Feder
Ogínskis hervorgegangen, würden wir sie zu den wertvollsten seiner Werke
rechnen
Der sich aufdrängende Vergleich mit dem jungen Mozart ist sicherlich
gerechtfertigt, wenn man die in diesem Alter außergewöhnliche Fähigkeit
bedenkt, eine Komposition in einem angenommenen Stil zu gestalten und fehlerfrei
zu beenden, und wenn man die Leichtigkeit erkennt, mit der ansprechende melodische
Phrasen und musikalische Figuren nach einer konventionellen, wenn auch sehr
simplen Tonalität zusammengesetzt werden. Stets neue melodische Phrasen in den
einzelnen Sätzen beider Polonaisen lassen keine Zweifel daran aufkommen, dass
der kleine Komponist sich beliebig viele solcher Melodien ausdenken konnte. In
der Vielgestaltigkeit der Faktur und der pianistischen Mittel überragt jedoch
der siebenjährige Fryderyk den siebenjährigen (und den selbst noch älteren)
Wolfgang, was sich natürlich durch die verschiedenen zur Verfügung stehenden
Modelle, aber auch durch die außergewöhnlichen pianistischen Fähigkeiten des
kleinen Chopin erklären lässt. Letztere bezeugen eine bravouröse Passage
über die gesamte Klaviatur, die in der Polonaise g-moll der (nach der
Einleitung) ersten Note der Hauptmelodie zum Abschluss vorausgeht, sowie das brillante
Überkreuzen der Hände in weiteren Teilen des Werkes, und in der Polonaise
B-Dur die in einem melodischen Gedanken eingespannten kurzen Passagen seines
Trios oder die rasante chromatische Tonleiter zum Abschluss der Hauptmelodie.
Die
in beiden Polonaisen des Kindes verwendeten pianistischen Figuren (abgesehen von
dem erstaunlichen Arpeggio) orientieren sich deutlich an den Werken Oginskis, so
auch der Effekt des Überschlagens der Hände. Die Schwäche dieser
Kompositionen liegt zweifellos in ihrer bescheidenen harmonischen Sprache. Sie
fällt gegenüber den kindlichen Werken Mozarts deutlich ab, der bereits mit
Modulationen operiert. Man sollte bei solchen Vergleichen jedoch stets die
Vorbilder im Auge halten: Der kleine Chopin komponierte seine Polonaisen genauso
wie Oginski Ende des 18. Jahrhunderts. Dennoch kann man in beiden Werken den
Kein eines großen Talents und einer künstlerischen Sensibilität ihres
Komponisten beobachten, und in dieser Beziehung fällt der genannte Vergleich
schon wesentlich vorteilhafter aus. Bemerkenswert ist die subtile und elegante
Kadenz, die in den ersten melodischen Gedanken in der Polonaise g-moll
beschließt, sowie die Art, die Phrasen mit veränderlichen Begleitfiguren zu
wiederholen, wie im Trio der Polonaise g-moll und im Hauptgedanken der Polonasie
B-Dur. Der kleine Komponist versteht instinktiv, dass eine Wiederholung Idealerweise
differenziert wird, und, was noch wichtiger ist: Aus dieser Differenzierung
entsteht ein neuer, emotional gesteigerter Ausdruck des wiederholten Teils.
Bei
beiden Werken bildet der Mittelteil (Trio) in der Paralleltonart im Ausdruck
einen großen Kontrast. In der Polonasie B-Dur errinert die sehr
reizvolle wehmütige Melodie des Trios in ihrem ersten Motiv ein wenig an das
Thema von Oginskis populärer Polonaise "Pozegnanie ojczyzny"
("Abschied von der Heimat") - der sieben-jährige Chopin entwickelte
diese Melodie jedoch anders, nach seinem eigenen Geschmack.
Eine derart
auffällige kompositorische Begabung eines so kleinen Kindes konnte nicht lange
eine bloß private Attraktion der Familie und der nächsten Bekannten bleiben.
Für eine Verbreitung der Nachricht vom "Wunderkind" der Chopins
sorgte schließlich der Taufpate des Kleinen Fryderyk Skarbek, der zu der
Zeit Professor für politische Ökonomie an der Warschauer Universität war. Er
finanzierte möglicherweise auch die Drucklegung der Polonaise g-moll durch
den Priester Józef Cybulski, Probst der Kirche zur Heimsuchung der Jungfrau
Maria in der Neustadt, gleichzeitig Inhaber der Notenstecherei, wo in den Jahren
1803 bis 1805 die berühmteste Editionsreihe "Wybór pieknych dziel
muzycznych i piesni polskich" (Auswahl schöner Musikwerke und polnischer
Lieder") unter der Redaktion Elsners erschienen war. Jene Polonaise,
Fryderyk Skarbeks Schwester Wiktoria gewidmet, wurde im November 1817
veröffentlicht - leider mit einigen enstellenden Fehlern im Notentext, die sich
aber leicht korrigieren lassen (so steht etwas b statt des
offensichtlichen c im ersten Akkord des zweiten Taktes). Der Titel mit
der Widmung und dem Namen des Komponisten wurde auf Französisch geschrieben, wie
es damals Brauch war, wobei man den alten Namen des polnischen Tanzes
verwendete: "Polonoise pour le Piano-Forte. Dédiée à Son Excellence
Mademoiselle la Comtesse Victoire Skarbek. Faite par Frédéric Chopin. Musicien
agé de huit Ans". Aus unerforschten Gründen wurde hier das Alter des
Kindes auf acht Jahre aufgerundet, obwohl ihm daran zum Zeitpunkt des Druckes
noch drei Monate fehlten.
Quellenangaben
(Textauszug aus "Chopin, Sein Leben, sein Werk, seine Zeit", Tadeusz A. Zielinski, ISBN 3-7857-0953-6)
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