Klavier-FAQ
von Alejandro Geberovich
Hier finden Sie auch die aktuellen Stand von dem FAQ: http://www.pianiversum.com
- Muss man wirklich acht
Stunden am Tag üben, wenn man Konzertpianist werden will?
- Was versteht man genau
unter Technik?
- Muss man 60 Jahre alt
werden, um musikalische Reife zu erlangen?
- Braucht man Tonleitern
und trockene Übungen?
- Ich habe vielleicht zu
viel (und womöglich auch mit falscher Technik) geübt,
und mir tut alles weh!
- Warum habe ich Gedächtnislücken?
- Muss man überhaupt
auswendig lernen und spielen?
- Warum habe ich
Lampenfieber?
- Ich spiele doch
ausgezeichnet, warum fühle ich mich trotzdem unwohl?
- Was ist ein "Echtes
Rubato", was ein Falsches Rubato?
- Was ist wirklich
Rhythmus, was sind "Punkte in der Zeit" und was ist
"Gruppenordnung";
was sind Proportionen in der Musik und wozu braucht man sie?
- Gibt es in der Musik
auch Yin-Yang...?
- Brauche ich beim
Klavierspielen den Körper?
Wenn ja, soll ich ihn direkt einsetzen oder nur indirekt, als Stütze?
- Warum verkrampfe ich
mich beim Klavierspielen?
- Muss man wirklich acht Stunden am
Tag üben, wenn man Konzertpianist werden will?
Mit einer geeigneten Technik gibt es beinahe keine Hindernisse, deren Überwindung
eine so hohe Anzahl von Übungsstunden zu normalen Zeiten (das heißt, nicht
unmittelbar vor einer wichtigen Verpflichtung) rechtfertigen könnte. Oft
jedoch verursacht die Klaviertechnik eher Hindernisse und Probleme, anstatt
sie zu lösen. Sind diese Hindernisse einmal vorhanden, muss der ganze
Spielapparat trainiert werden, um so stark zu sein, dass seine Kapazitäten
über diejenigen, die notwendig sind, um diese Hindernisse zu bewältigen,
hinausgehen. Die Schwierigkeiten einer bestimmten Passage werden in fast
allen Fällen von einer falschen Technik verursacht. Man sollte daher die
Technik perfektionieren, anstatt Passagen zu üben. Ist die Technik in
Ordnung, so gibt es natürlich trotzdem noch immer Stellen, die schwieriger
sind als andere, und die entsprechend mehr Übungszeit (aber ganz gewiss keine acht Stunden am Tag) benötigen. Die Probleme werden in erste Linie im
Kopf gelöst und nicht mit bloßer Muskelkraft. Vier bis fünf mit voller
Konzentration geübte Stunden sollten in den meisten Fällen ausreichen.
Wenn die Konzentration nachlässt, dann empfiehlt es sich, eine ganz kurze
Pause von einer bis zwei Minuten zu machen oder einfach etwas anderes zu
spielen; danach kann man in den meisten Fällen frisch weiter üben.
- Was versteht man genau unter Technik?
Unter Technik versteht man nicht einzelne Übungen, sondern die Art, wie man
Klavier spielt. Die Technik umfasst alle Mittel, die wir zur Verfügung
haben, um unsere musikalischen Ziele zu erreichen. Sie bezieht sich nicht
nur auf den Spielapparat, sondern auch auf andere Aspekte, wie zum Beispiel
Rhythmus, Vortragsregeln, etc.
- Muss man 60 Jahre alt werden, um musikalische Reife zu
erlangen?
Das ist eine weit verbreitete Meinung. Zur Intuition und zum musikalischen
Talent summiert sich mit fortschreitendem Alter die Erfahrung. Man hat
gelernt, was die Zuhörer als angenehm und richtig empfinden. Inwieweit
diese Erfahrung auch Wissen ist, das heißt, so weit bewusst, dass man in
der Lage ist, das Erreichte jederzeit zu reproduzieren oder es im Unterricht
weiterzugeben, sei dahingestellt. Wenn man aber die Gesetzmäßigkeiten der
von Tradition und Allgemeinheit gut und richtig eingestuften Art zu
musizieren erkannt hat und diese Gesetze so zu formulieren vermag, dass sie
auch von jungen Menschen verstanden und jederzeit reproduziert werden können,
dann hat dieses Alters-Mythos keine Berechtigung mehr. Es gibt ganz konkrete
und analysierbare Unterschiede zwischen der als gut und reif und der als
zwar vielversprechend, aber noch unreif bezeichneten Art, Musik zu machen.
- Braucht man Tonleitern und trockene Übungen?
Tonleitern sind wichtig, um die Fingersätze der jeweiligen Tonart zu lernen
und diese dann wieder einzusetzen, wenn die entsprechende Tonfolge vorkommt.
Selbstverständlich muss man alle Tonarten kennengelernt haben; das ist aber
auch schon alles. Bitte lesen Sie die Antwort zu meiner ersten Frage! Wenn
die Technik stimmt, braucht man keine Tonleitern, um die Muskeln zu
trainieren und Geläufigkeit zu erreichen. Muskeln braucht man, wenn man mit
Gewicht und Druck spielt und in der Lage sein muss, die unnötige Last noch
dazu schnell hin- und herzutransportieren. Ähnliches kann ich zu den
trockenen (musiklosen) Übungen sagen. Diesen sportlichen Leistungen sind
nicht alle Menschen gewachsen; außerdem führen sie allzu oft zu
Verletzungen oder Entzündungen bis hin zur frühzeitigen Aufgabe des erwünschten
Zieles.
- Ich habe vielleicht zu viel (und womöglich auch mit
falscher Technik) geübt,
und mir tut alles weh!
Das ist die Fortsetzung der obigen Antwort. Ihr Problem ist einfach Überbelastung.
Sie gehören zu den Menschen, die vielleicht nicht die robuste Konstitution
besitzen, um große sportliche Leistungen durchzustehen, oder Sie haben
nicht das Glück gehabt, von einem guten Lehrer so geführt zu werden, dass
Sie halbbewusst, trotz Gewicht und Druck, durch gezielte
Rotationsbewegungen, die dazu dienen, die Gelenke beweglich zu halten, ohne
Beschwerden spielen können. Es geht aber auch anders: Wenn Sie lernen, ohne
Überbelastungen (das heißt vor allem, ohne Gewicht und Druck) zu spielen,
dann werden Sie sich von Ihren Beschwerden befreien können, und zwar endgültig.
Eine erzwungene Spielpause oder eine medikamentöse Behandlung sind keine
Dauerlösung; die Ursachen des Problems müssen erkannt und beseitigt
werden.
- Warum habe ich Gedächtnislücken?
Um diese Frage beantworten zu können, muss ich einige Gegenfragen stellen:
Was heißt auswendig lernen? Wie bewusst sind Sie, wenn Sie zu Hause, in
aller Ruhe und ohne Aufregung, spielen? Glauben Sie wirklich, jeden Ton im
Kopf zu "sehen", bevor Sie ihn spielen? Es gibt einen einfachen
Test, um Ihren Bewusstseinsgrad festzustellen: Versuchen Sie, bei einem
bestimmten Stück die Reihenfolge der Tasten für eine Hand mit dem
Zeigefinger stumm (ohne Ton) zu zeigen. Sie werden wahrscheinlich
feststellen, dass es entweder gar nicht geht, oder dass Sie dabei beträchtliche
Lücken haben. Mit diesem Test schalten wir einfach die Automatik aus. Ohne
den Fingersatz und ohne den Ton müssen Sie wirklich die Tasten (Noten)
wissen, um sie zeigen zu können. Das Gedächtnis besteht aus vielen
Schichten: dem fotografischen Gedächtnis (den Bildern), dem
"geographischen" Gedächtnis (der Geographie der Tastatur), dem
Gedächtnis der Bewegungsabläufe, vor allem des Fingersatzes, dem
akustischen Gedächtnis (den Tönen) und dem theoretischen Gedächtnis
(Harmonie, Form, etc.). Alle diese Elemente zusammen erzeugen die
"Bilder", die vor und während des Spiels in unserem Kopf
erscheinen. Meine "Kreis-Methode" hilft Ihnen, systematisch und
geordnet, Schicht für Schicht, auswendig zu lernen. Eine detaillierte Erklärung
dieser Methode können
Sie per Email anfordern. Auch wenn Sie mir sagen, dass Sie jeden
einzelnen Ton niederschreiben können, handelt es sich sehr wahrscheinlich
um ein rein theoretisches und daher statisches Gedächtnis. Das Gedächtnis muss
aber dynamisch sein, alle Ereignisse müssen der Reihe nach, also im Verlauf
der Zeit und in Form von Bildern im Kopf erscheinen, bevor sie in die
Wirklichkeit umgesetzt werden. Wenn Sie mit Gewicht und Druck spielen, dann
sind Sie nur bedingt in der Lage, die Töne einzeln zu gestalten. Es
entstehen "globale" Rotationsbewegungen, die dazu dienen, die
eingesetzten Körpermassen hin- und herzutransportieren; auf dem Weg,
sozusagen "nebenbei", werden die Töne erzeugt. Die sich
bewegenden Körpermassen entwickeln ihre Eigendynamik und ihre Trägheit, sodass
der Kopf, fast könnte man sagen, "als Beobachter" die
Geschwindigkeit der Bewegungen und die Lautstärke den eigenen Vorstellungen
gemäß zu lenken versucht. Man hat das Gefühl, "in einer Wolke oder
im Nebel zu sein" und nicht klar denken zu können. Dieser Prozess ist
zum größten Teil automatisch. Durch stundenlanges Üben wird diese
Automatik so weit gestärkt, dass es halbwegs sicher ist, vor Publikum
auswendig zu spielen. Was passiert aber, wenn die Automatik einmal versagt?
Man bekommt panische Angst, wird unsicher und verliert sein Selbstvertrauen.
Es könnte jedes Mal wieder passieren!... Man hat aber in Wirklichkeit kaum
etwas vergessen, denn man kann unmöglich etwas vergessen, das nie da war!
Die Elimination des Gewichtes und des Druckes erlaubt die direkte Verbindung
des Gehirns mit den ausführenden Fingern. Wenn man nicht rollt und daher
nicht von der Trägheit vorangetrieben wird, kann man jeden Ton einzeln
gestalten, den richtigen Zeitpunkt seiner Erscheinung bestimmen und ihm den
gewünschten Inhalt geben. Aus einzelnen, bewussten und inhaltsvollen Tönen
entsteht dann die "große Linie". Nur unter diesen Bedingungen können
die Intentionen das Instrument erreichen und in Töne umgewandelt werden.
Diese bewusste Art, Klavier zu spielen bringt Klarheit im Kopf und
verhindert Gedächtnislücken.
- muss man überhaupt auswendig lernen und spielen?
Ja! Es ist absolut notwendig, auswendig zu spielen, vorausgesetzt, man will bewusst
spielen, eine Technik ebenso bewusst umsetzen und jedem Ton seine
eigenen Intentionen übermitteln. Wenn man mit Gewicht und Druck spielt,
basiert ein hoher Prozentsatz des Spiels (wie oben erklärt) auf Automatik.
Die musikalischen Intentionen richten sich daher vorwiegend auf mehr oder
weniger große Gruppen von Tönen; eine direkte Einbindung der Intentionen
bei einzelnen Tönen ist sehr schwer (und gelingt meistens nur in extrem
langsamen Sätzen), weil dieses Vorhaben die bewusste Erzeugung dieser Töne
erfordert. Wenn man von Noten spielt, sind die Noten nur mehr der Reiz, der
die schon fast vollständig automatisierten Bewegungen hervorruft. Das
geschieht praktisch ohne bewusste Teilnahme der Kopfes und geht sozusagen
vom Notenbild durch die Augen direkt in die Finger. Wenn man nicht weiß,
WAS man spielt, dann kann man unmöglich genau wissen, WANN und noch
weniger, WIE man es spielt.
- Warum habe ich Lampenfieber?
Lampenfieber ist keine Krankheit! Es ist nur ein Zeichen: Es zeigt die
vielen Lücken, mit anderen Worten, die unbewussten Bereiche, die man im
Laufe der Jahre im Lernprozess gesammelt hat. Lücken erzeugen in jedem Fall
Unsicherheit, umso mehr, wenn sie unbewusst sind. Man ist unsicher, weil das
auswendig gelernte Stück nur zu einem (oft sehr kleinen) Teil im Kopf
"gespeichert" ist, und man weiß außerdem nicht genau, wie groß
der fehlende Teil ist. Auch wenn oder gerade weil man nicht auswendig
spielt, sind die Bewegungen, die man bei der Lösung von spieltechnischen
Problemen benötigt, so "global" (also an die "Mengen"
von Tönen gerichtet), dass der prozentuelle Teil der Automatismen seinen höchsten
Wert erreicht. Unbewusste Vorgänge können nur Unsicherheit und Angst
hervorrufen, auch wenn man sie stunden-, monate- oder jahrelang unermüdlich
geübt und vollkommen automatisiert hat. Nur wenige privilegierte und genug
unverantwortliche Menschen sind in der Lage, in einem solchen Zustand der
"Unwissenheit" öffentlich aufzutreten und trotzdem ohne
Lampenfieber glanzvolle Leistungen hervorzubringen.
- Ich spiele doch ausgezeichnet, warum fühle ich mich
trotzdem unwohl?
Ihre Art zu spielen und sicher auch zu üben ist nicht effektiv genug. Sie
investieren zu viel Zeit, um ein mageres Produkt zu erreichen. Dieses
Produkt ist außerdem mangelhaft, auch wenn man (vorausgesetzt, man hat
einen "guten" Tag) manchmal oder sogar oft sehr gut spielt. Die Mängel
und die unbewussten Bereiche werden durch Automatismen überbrückt. Wie
schon oben erklärt, wissen wir, dass Automatismen nur Unsicherheit und
Angst erzeugen. Eine auf Gruppen von Tönen gerichtete und daher oberflächliche
Art zu spielen und zu musizieren verhindert den bewussten Anschlag einzelner
Töne und macht so die Wechselwirkung der Spannungsverhältnisse zwischen
den Tönen unmöglich. Ohne Spannungsverhältnisse und ohne ihre
Wechselwirkung wird die Musik schwer verständlich und daher auch
uninteressant. Wenn man musikalisch hochbegabt ist und ein großes Bedürfnis
danach hat, sich auszudrücken, dann soll man sich nicht wundern, dass man
sich mit einem so mangelhaften Produkt unglücklich fühlt!
- Was ist ein "Echtes Rubato", was ein Falsches
Rubato?
Was ist ein "Echtes Rubato", was ein Falsches Rubato? Da es immer
wieder zu Missverständnissen und falschen Interpretationen, den Begriff
Rubato betreffend, kommt, verwende ich die Ausdrücke Echtes Rubato und
Falsches Rubato. Das Echte Rubato ist das Tempo Rubato, wie es seit der
Barockzeit bis weit in die Romantik verstanden wurde. Dabei werden manche
Melodienoten kürzer, manche länger gespielt. Diese Veränderungen werden
immer im bezug auf die Begleitung gemacht. Die Begleitung selbst verändert
ihre gleichbleibende Geschwindigkeit nicht. Man kann ständig die Melodie
mit der Begleitung (die als Referenz fungiert) vergleichen, indem man bei
bestimmten Melodienoten "kürzer oder länger als diese unveränderliche
Referenz" denkt. Das Falsche Rubato ist die "modernere
Version" des Rubato; eigentlich sollte es zutreffender
Temposchwankungen heißen. In diesem Fall wird das allgemeine Tempo, sowohl
in der Melodie, als auch in der Begleitung, verändert. Die
Temposchwankungen laufen in allen Stimmen parallel und müssen ausgeglichen
sein. Das heißt, um langsamer werden zu dürfen, muss man zuerst schneller
geworden sein und umgekehrt; Hauptsache ist, dass die Rechnung auf Null
bleibt. Dieser Ausgleich findet meistens innerhalb eines Taktes oder der
Teile eines Taktes statt; in einigen Fällen jedoch kann er sich über
mehrere Takte erstrecken. Sollte es keinen Ausgleich geben, dann haben wir
es nicht mit Rubato, sondern entweder mit Accelerando oder Ritardando zu
tun. Besonders in der Romantik finden wir oft beide Rubatoarten gemeinsam.
In den Chopin-Nocturnes gibt es zahlreiche Beispiele für die gleichzeitige
Anwendung beider Arten von Rubato. Die oft sehr langen und schnellen
Ornamentationen mit ungeraden Notenwerten können nicht unter Beibehaltung
des Grundtempos gespielt werden; da muss die Begleitung einfach mitmachen
und langsamer werden. Die ungeraden Notenwerte sorgen, ganz im Sinne des
Echten Rubatos, dafür, dass kaum eine Note der Melodie mit der Begleitung
zusammenfällt. Ansonsten war das berühmte Chopin-Rubato ganz gewiss stets
ein Echtes Rubato. Hilfe für das Verständnis des Rubato könnte auch die
Beantwortung der Frage Was ist Rhythmus und was sind Proportionen? bringen.
- Was ist wirklich Rhythmus, was sind "Punkte in der
Zeit" und was ist "Gruppenordnung"; was sind Proportionen in der Musik und wozu braucht man sie?
Die Zeit als Abstraktum ist nur durch die Beobachtung der Geschehnisse in
ihrem Verlauf vorstellbar und messbar. In ihrem konstanten Fließen von der
Vergangenheit in Richtung Zukunft erlaubt uns die Zeit, eine Ordnung
innerhalb dieser Geschehnisse festzulegen. Diese Ordnung könnte man nach
Aristoteles als das Verhältnis zwischen dem Vorher und dem Nachher von
irgendetwas definieren. Durch die Einteilung in Zeitbruchteile können wir
dieses "Etwas" zwischen einem Davor und einem Danach platzieren.
Denselben Begriff von Ordnung kann man in einem räumlichen Sinn anwenden:
Das "Etwas", in diesem Fall ein greifbares Objekt, ist zwischen
den Objekten, die vor und nach ihm sind, platziert. Durch diese Ordnung
bringt es sich in Relation zu den sich vor und nach ihm befindlichen anderen
Objekten. Die Zeit selbst schreitet kontinuierlich und unwiderruflich in
Richtung Zukunft fort und lässt gleichzeitig die Vergangenheit zurück. Die
Gegenwart ist nichts anderes als ein Punkt in ständiger Bewegung; sie ist
die Grenze zwischen dem Vorher und dem Nachher, ein winziger Punkt in der
unendlichen Linie Vergangenheit-Zukunft, ein Punkt in der Zeit. Durch die
Verbindung zwischen Raum und Zeit ist es uns möglich, uns eine räumliche
Einteilung der Zeit vorzustellen. In dem Begriff Geschwindigkeit sind Raum
und Zeit vereint. "Punkte in der Zeit" sind die Stationen einer
Strecke (das ist die Entfernung zwischen zwei Punkten), die in einer
bestimmten Zeit "gefahren" wird. Das entspricht der physikalischen
Definition der Geschwindigkeit. Die Entfernungen sind konstant, doch die
Zeit, die wir brauchen, um durch eine bekannte und vordefinierte Strecke zu
fahren, ist variabel. Alles, was sich bewegt, unterliegt dem Gesetz der Trägheit.
Das schließt uns "Klavierspieler" und auch das Instrument Klavier
mit ein. Nach dem Trägheitsgesetz braucht jeder Körper in Bewegung so viel
zusätzliche Energie, wie er durch die Reibung verliert, um seine Bewegung
zu erhalten. Ohne Energieverlust würde dieser Körper ewig in Bewegung
bleiben. Ein Körper im Ruhezustand würde genauso ewig in diesem Zustand
bleiben, wenn man auf ihn nicht eine Kraft einwirken ließe, die ihn in
Bewegung setzt. Ein Körper in Bewegung braucht daher viel weniger Energie,
um seine Bewegung zu erhalten, als derselbe Körper im Ruhezustand, um seine
Bewegung zu initiieren. Wenn man eine Gruppe von Tönen spielt, dann ist
jede weitere Bewegung nach dem ersten Ton leichter als beim ersten Ton zu
erzeugen; es besteht daher die Tendenz, schneller zu werden. Um das zu
vermeiden, müssen wir die Zeit, die durch die kleine Beschleunigung
innerhalb der Gruppe gewonnen wurde, vor der nächsten Gruppe abwarten, um
nicht unkontrolliert schneller zu werden ("zu laufen"). Diese
Gruppierung findet in jeder Notenwertebene statt. Jeder Punkt in einer Ebene
fixiert auch die Position der ersten Note der jeweiligen Gruppe in der
unmittelbar untergeordneten Ebene innerhalb des Taktes. So entsteht eine
hierarchische Struktur: die Gruppenordnung". (Die Trägheit ist ganz gewiss
nicht die einzige Ursache für die Gruppenordnung; es würde aber an dieser
Stelle zu weit führen, auf die anderen Faktoren einzugehen.) Die
Gruppenordnung stellt die Proportionen, das heißt, die relativen Abstände
zwischen den Tönen, dar. Die Proportionen sind in Prinzip fix, können aber
nach Bedarf an die Bedürfnisse der Musik angepasst werden. Diese
Korrekturen bilden dann neue, veränderte Proportionen, die wiederum fix
sind. Die Geschwindigkeit kann jederzeit geändert werden, nicht aber die
Proportionen; die so fixierten "Punkte in der Zeit" bleiben an
ihren Plätzen verankert. Die Proportionen sind unbedingt notwendig, damit
wir immer wissen, in welchem Teil des Taktes (mit anderen Worten, des
Musikflusses) wir uns gerade befinden. Die Proportionen bilden die
Referenzpunkte, die wir brauchen, um zum Beispiel die Geschwindigkeit zu verändern,
oder um bestimmte Noten länger oder kürzer als die von den Proportionen
vorgegebenen Noten zu gestalten (Echtes Rubato).
- Gibt es in der Musik auch Yin-Yang...?
Die chinesischen Begriffe Yin und Yang stehen für zwei entgegengesetzte und
sich ergänzende Kräfte oder Elemente. Wir finden diese Gegensätze überall;
hier sind einige Beispiele in der Reihenfolge Yang-Yin:
Feuer-Wasser
Tag-Nacht
Himmel-Erde
Wärme-Kälte
männlich-weiblich
trocken-feucht
Licht-Finsternis
hell-dunkel
hart-weich
eckig-rund
geradlinig-kurvig
explosiv-implosiv
Kinetische Energie-Potentielle Energie
Zentrifugale Kraft-Zentripetale Kraft
aggressiv-defensiv
kurzlebig-langlebig
expansiv-verdichtend
aktiv-passiv
kreativ (schöpferisch)-rezeptiv (empfangend)
Yin-Yang ist universell und daher nicht geschlechtsspezifisch. Sowohl beim männlichen
als auch beim weiblichen Geschlecht sind Yin- und Yangkräfte vorhanden. Bei
der Frau sind die Yineigenschaften meistens stärker ausgeprägt als die
Yangeigenschaften und umgekehrt. Für uns Musiker ist es wichtig zu wissen,
wie sich die Kräfte beim Klavierspielen und beim Musizieren entwickeln.
Diese Kräfte können auf- oder absteigend sein, die allgemeine Spannung
kann zu- oder abnehmen, und die Bewegung kann langsamer oder schneller
werden. Der Anschlag kann direkt, kurz und schnell, also Yang sein, oder Yin
sein, das heißt, seine Geschwindigkeit infolge einer erhöhten
Anfangsspannung zunehmend entwickeln; die für die Entstehung des Anschlages
notwendigen Bewegungen können rund und der Weg bis zur Erscheinung des
Tones etwas länger sein. Der Rhythmus ist vom Yin-Yang direkt betroffen.
Schwere Taktteile sind nicht nur schwer; sie sind auch Yang; umgekehrt sind
leichte Taktteile auch Yin. Wie schon bei der Gruppenordnung erklärt, gibt
es auch hier eine hierarchische Gruppenstruktur. Da Yin und Yang keine
absoluten, sondern relative Begriffe sind, kann man nur Gleiches mit
Gleichem vergleichen und so feststellen, ob ein Element mehr Yang oder mehr
Yin als ein anderes ist. Größere Gruppen, die mit gleich großen
verglichen werden, und relativ mehr Yang oder mehr Yin sind, beinhalten auch
kleinere Elemente, die, wiederum miteinander verglichen, mehr Yang oder Yin
sein können. Bei kleinen Elementen äußert sich das Yin-Yangprinzip eher
in der Qualität der Anschlages, und bei größeren Elementen äußert es
sich in der Qualität (in der Form und der Spannung) und in der Entwicklung
der Geschwindigkeit der Bewegungen (mit anderen Worten, in den
Temposchwankungen). Zusammenfassend (und stark vereinfacht!) könnte man
sagen, dass Yang das mit Hilfe der Schwerkraft Herabfallende, die schnelle
Abnahme der Spannung und die Zunahme der Geschwindigkeit bedeutet und Yin,
genau umgekehrt, das gegen die Schwerkraft Aufsteigende (das mit einer größeren
Anstrengung verbunden ist), die langsame Zunahme der Spannung und die damit
verbundene Verringerung der Geschwindigkeit. Das richtige Musizieren von
vier- oder achttaktigen Perioden mit den entsprechenden kleinen
Verlangsamungen nach vier und/oder acht Takten ist nur ein kleines Beispiel
für die Anwendung des Yin-Yangprinzips.
- Brauche ich beim Klavierspielen den Körper?
Wenn ja, soll ich ihn direkt einsetzen oder nur indirekt, als Stütze?
Ja! Ohne Körpereinsatz kann man nicht Klavier spielen. Bis zur Mitte des
19. Jahrhunderts waren die Tasteninstrumente sehr leichtgängig; sie hatten
auch einen sehr seichten Tiefgang. Mit der Entwicklung des Hammerklaviers
zum modernen Flügel und dem Trend zum größeren Ton wuchsen sämtliche
Dimensionen. Der Tiefgang verdoppelte sich, genauso wie das Tastengewicht
(letzteres in vielen Fällen sicher mehr als doppelt so viel). Besonders die
Flügel mit Wiener Mechanik (der Weiterentwicklung der
Hammerklaviermechanik), die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die
überwiegende Mehrzahl darstellten, waren sehr schwergängig. Die Folge war
klar: Mit bloßer Fingerkraft war man nicht mehr in der Lage, die Tasten
effektiv niederzudrücken (das heißt, sowohl die Anschlagsgeschwindigkeit
als auch die Tastenfolge betreffend, schnell genug niederzudrücken), sodass
die damit erreichte Lautstärke des Tones und das damit erreichte Tempo
zufriedenstellend waren, und noch dazu, ohne müde zu werden! Viele
florierende Klaviertechniken verloren somit schnell an Wichtigkeit und
verschwanden schließlich ganz, wie zum Beispiel die berühmte Logiermethode
mit dem Chiroplast, dem Handleiter: einer Leiste, auf der man das Armgewicht
bequem auflegen und daher nur mit den Fingern, ohne Gewicht, spielen konnte.
Die logische Reaktion war der zunehmende Einsatz der Körpermassen beim
Klavierspielen. Diese Körpermassen wurden direkt eingesetzt, das heißt,
direkt in die Tastatur hineingeworfen. Diese Technik ist, in den
verschiedensten Variationen, die bis heute am weitesten verbreitete. Das
Problem dabei ist, dass die Trägheit solcher Massen schwer kontrollierbar
ist. Die Körpermassen entwickeln ihre eigene Dynamik, was die zeitliche
Einteilung der Bewegungen und ein genaues Zielen erschwert. Diese mangelnde
Kontrolle beeinträchtigt auch die Anschlagsqualität. Die Folgen sind
schwerwiegend und reichen in vielen Fällen bis zu Konzentrationsschwächen,
Gedächtnislücken und schmerzhaften Beschwerden. Die Alternative ist die
indirekte Verwendung der Körpers. Der Körper bleibt dabei
"oben", mit anderen Worten, man lässt die Körpermassen nicht
frei hinunterfallen. Das Körpergewicht fließt zum Sessel hin, und die
Finger bleiben dabei frei. Mit gezielten "Impulsen" werden die
Tasten bewegt, wobei der Körper als Stütze und Referenzpunkt für gezielte
Bewegungen verwendet wird; man spielt sozusagen nicht "mit",
sondern "gegen" den Körper. So kann man die
Anschlagsgeschwindigkeit genau kontrollieren und den Zeitpunkt des
Anschlages sowie auch dessen Qualität bestimmen. Ohne die als Rückendeckung
wirkenden Körpermassen hätten die Finger nicht genügend Kraft, alle ihre
Aufgaben zufriedenstellend zu erfüllen.
- Warum verkrampfe ich mich beim Klavierspielen?
Gewicht und Druck erfordern eine Hand- und Körperhaltung, die das Hin- und
Hertransportieren der auf die Finger fallenden, beziehungsweise auf die
Finger wirkenden "Körpermassen" aushält. Die Handfläche wird
rund und die Hand schließt sich, sie verliert an Spannweite und die Finger
verlieren auch einen Teil ihrer Unabhängigkeit. Sie arbeiten zusammen mit
dem Daumen mit greifähnlichen Bewegungen. Diese Bewegungen zielen zum
Mittelpunkt der Hand und entsprechen daher nicht der Richtung in der sich
die Tasten bewegen. Das verursacht zusätzliche Spannungen, die den Druck
erhöhen. Die Finger bilden kleine Säulen, die das Gewicht und den Druck
aushalten sollen. Die Verminderung der Bewegungsfreiheit und die schwere
Last führen zu zunehmender Steifheit. Als Ausgleich versucht man mit
rollenden Bewegungen den "Transport der Massen" zu erleichtern und
die Gelenke locker zu halten. Das Bedürfnis locker zu sein wird so zu einer
fixen Idee. Zu viel Lockerheit versetzt uns in einen passiven Zustand, in
dem wir vielen pianistischen Aufgaben nicht mehr gewachsen sind. Der Ton
wird schwächer und die Geschwindigkeit lässt nach (besonders bei lauten
Passagen); als Ersatz dafür drücken wir noch mehr und strengen wir uns zusätzlich
an, um die Schwäche zu kompensieren. Die Folge: aus der Lockerheit wird
wieder Verkrampfung und der Teufelskreis fängt von vorne an.
Als Alternative bietet sich die Eliminierung des Gewichtes und des Druckes
mittels einer angenehmen, bewussten und kontrollierbaren Spannung (Katzen-
oder Jägerhaltung) an, die den aktiven Zustand gewährleistet und somit
einen hohen Wirkungsgrad erreicht, der Überanstrengungen unnötig macht.
Die Gelenke werden dabei nach jedem Anschlag fixiert, um das Freifallen der
wirkenden Körperteile zu verhindern. Hier muss man zwischen Fixieren und
Steifsein unterscheiden. Beim Fixieren kann ich jederzeit die eingenommene
Position ungehindert verlassen und eine neue einnehmen; ich bin daher in
meiner Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt. Wenn ich dagegen steif bin,
kann ich mich nur schwer bewegen. Diese Einschränkung wird durch den
Einsatz von noch mehr Kraft (Druck) "kaschiert", was wiederum eine
noch größere Steifheit verursacht.
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