Entwicklung einer neuen Klavierschule
Vermutlich war es Frühjahr oder im Sommer 1849, als Chopin zum letzten Mal
versuchte, eine Idee in die Tat umzusetzen, die ihn schon mehrere Jahre zuvor
beschäftigt hatte, nämlich eine Klavierschule zu schreiben. Sie sollte die
Erfahrungen, die er während seiner langjährigen Unterrichtstätigkeit
gesammelt hatte, zusammenfassen. Im Gespräch mit Freunden nannte Chopin, das
geplante Lehrbuch "Methode" oder "Methode der Methoden".
Doch das Vorhaben ist über einen Entwurf von 16 Seiten nie hinausgekommen.
Chopin hatte seine Aufzeichnungen auf Französisch gemacht, und oft wieder
durchgestrichen und insgesamt mit vielen Rechtsschreibfehler geschrieben. Es
finden sich dort sowohl praktische als auch theoretische Vorschläge, die er
später anhand von Beispielen hätte erläutern und weiterentwickeln können.
Leider hatte er nicht mehr Kraft, das Werk fertigzustellend, aber er notierte
seine Gedanken in großer Eile und hoffte, dass er selbst oder eine andere Person
sie später ordnen würde. Doch sogar diese Notizen musste er bald aufgeben. In
seinen Aufzeichnungen empfiehlt Chopin beispielsweise, Tonleiterübungen immer
in Ges-Dur zu beginnen, da die schwarzen Tasten für die langen Finger bequemer
seien. Die Tonleitern seien so zu üben, dass die Anzahl der schwarzen Tasten
stetig abnimmt und der Schüler sich langsam der laut Chopin schwersten Tonart
nähert, nämlich der C-Dur. Chopin legte Wert darauf, jeden Finger einzeln zu
trainieren, und wehrte sich dagegen, sie alle mit gleichem Kraftaufwand
einzusetzen. Es gibt genaue Anweisungen, auf welche Arten Triller ausgeführt werden
können (auch mit mehr als zwei Fingern), ebenso Folgen von terz-, Sext- und
Oktavparallelen. Er stellt unterschiedliche Fingersätze für chromatische
Tonleitern vor und widmet sich ebenfalls der Bewegung des Handgelenkes. Doch in
den Notizen finden sich auch allgemeine Gedanken zur Musikästhetik, die in
mehreren Punkten gegliedert sind und vermutlich den Entwurf für den geplanten
Einteilungsteil darstellen. Chopin betont, dass der Ton allein noch keine
Musik sei, sondern dass diese erst aus der Verbindung verschiedener Töne entstehe.
Er vergleicht Töne und Wörter miteinander und stellt ihren gemeinsamen
Ursprung heraus, betont hierbei aber die "Unbestimmtheit" (vermutlich
auf der sematischen Ebene) der musikalischen Klänge wie auch der Musiksprache
allgemein ("la langue indéfinie de la musique"). Doch zugleich ist
Musik für ihn ein Ausdruck des Gedankens ("l'expression de notre pensée")
und eine Darstellung des Gefühls ("la manifestation de notre sentiment par
les sons"). Musik ist für ihn eine Verbindung von Kunst und Technik: die
Kunst, Gedanken durch Töne auszudrücken ("l'art d'exprimer ses pensées
par les sons"), und die Technik, Töne für etwas einzusetzen ("l'art
de manier les sons")
Quellenangaben
(Textauszug aus "Chopin, Sein Leben, sein Werk, seine Zeit", Tadeusz A. Zielinski, ISBN 3-7857-0953-6)
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