Chopins Dreißigster Geburtstag
Am 1. März 1840 feierte Chopin seinen dreißigsten Geburtstag. Damit galt er
nicht mehr als junger Mann. In der Tat lag seine jugendliche Schaffensperiode
schon weit hinter ihm, und seine Kompositionen zeugten von einem hohen Grad an
Reife und ästhetischem Raffinement. Als er sich dessen bewusst wurde und ebenso
seiner Stellung, die er als Komponist in Europa genoss, beschloss er, auf eine
Karriere als Klaviervirtuose zu verzichten bzw. sich nicht weiter darum zu
kümmern., obwohl er auch als Pianist höchste Anerkennung genoss. Jedenfalls
war es ihm kein Bedürfnis, öffentlich aufzutreten, ganz im Gegensatz zu Liszt
und Thalberg, denen Bühnenerfolge viel bedeuteten. Er wusste, dass er mit
seinem grazilen Spiel am besten in kleinem, intimem Kreis beeindrucken konnte,
und scheute sich, vor einer Menge fremder Menschen zu spielen. Aber noch viel
wesentlicher war, dass seine Liebe in erster Linie dem Komponieren galt, und
dort entwickelte er seinen Ehrgeiz, so dass er nicht nach Erfolgen auf anderen
Gebieten strebte, die ihm ohne weiteres in den Schoß gefallen wären. Ihm
genügte es, vorzuspielen und sie zu veröffentlichen - nur das nahm er sehr
ernst.
Sicher war dieser Geburtstag für Chopin ein Anlass, Bilanz zu ziehen. Sein
künstlerischer Weg war bisher ohne Niederlagen geblieben: Er hatte als
Komponist in Stil und Form alles erreicht, was er erträumt und sich zum Ziel
gesetzt hatte, und das als Ergebnis intensiver geistiger Arbeit, einer
kritischen Kontrolle seiner Imagination und häufigen Kopfzerbrechens über
Details. Er hatte ein außergewöhnliches Improvisationstalent. Wenn er alles
aufgeschrieben und publiziert hätte, was ihm seine Phantasie spontan eingab,
hätte dies wohl bei seinen Zeitgenossen unmittelbar großen Erfolg gehabt. Aber
Chopin hatte einen anderen Weg gewählt, wollte sehr viel höher stehende Ideal
erreichen. Und er blieb diesen Idealen treu, wählte aus der Masse der Ideen aus
und arbeitete sorgfältig und diszipliniert - auch wenn es ihn mehrere Wochen
kostete. So entstanden seine genialen Kompositionen, die zu den bedeutendsten
der Musikgeschichte gehören.
Der dreißigjährige Chopin konnte also zufrieden sein mit den Jahren, die
hinter ihm lagen, und er hatte ebenso Gründe, sich an der Gegenwart zu freuen.
Obwohl er nie geheiratet und keine Familie gegründet hatte (wovon er 1835
träumte), war er mit einer Frau liiert, die er liebte und deren Persönlichkeit
und Talent er bewunderte und die ihn mit Wärme und Fürsorge umgab, wie er es
nie bei anderen Frau erlebt hatte. Obwohl er seit seiner Rückkehr aus Nohant
wieder allein wohnte, fühlte er sich glücklich, da er wusste, dass er nicht
einsam war und George jederzeit sehen konnte, was er auch häufig so
einrichtete. Die Rue Tronchet lag etwa einen Kilometer von der Rue Pigalle
entfernt, und Chopin legte den Weg fast täglich mit der Kutsche zurück. Er
fühlte sich bei George und ihren Kindern wie zu Hause, und wenn er kam, schien
ihn auch das Bild des Freundes Grzymala zu begrüßen, das über der Tür hing
und Grzymala in polnischer Tracht zeigte. In seiner Wohnung, wo er auch etwas
fünf Stunden täglich unterrichtete, sorgte sein Diener Tinau für Ordnung.
Fontana war es gelungen, einen Polen für diese Tätigkeit zu finden, wie es
Chopin es gewünscht hatte. Tinau machte ihm morgens sein Frühstück und
servierte ihm Kaffee, während er arbeitete. Die anderen Mahlzeiten nahm Chopin
lieber bei George ein, und oft blieb er über Nacht dort.
Quellenangaben
(Textauszug aus "Chopin, Sein Leben, sein Werk, seine Zeit", Tadeusz A. Zielinski, ISBN 3-7857-0953-6)
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