Chopin als Multitalent – Der Schauspieler und Zyniker
Chopins Ausdruckswelt als Künstler führte vom Schauspieler über den Pianisten zum Komponisten. Die Zusammenhänge des ersteren mit dem letzteren sind im Hinblick auf sein kompositorisches Werk bis heute noch zu wenig erwogen und beachtet worden. Es begann schon in der Schule, als der kleine Frycsek (Fritz), wie er in der Familie stets genannt wurde, der alles andere als ein stiller und träumerischer, sondern ein sehr lebendiger und aufgeweckter Knabe war, sich in mimischen Darstellungen von Mitschülern und Lehrern produzierte, was man ihn aber nicht übel nahm, da sein schauspierlerisches Talent einfach schlagend war. Der Junge war, was man einen Charakterdarsteller nennt. Er hatte für menschliche Eigenheiten und Schwächen einen scharfen, den Charakter des Mitmenschen gleichsam sezierenden Blick wie sein englischer Zeitgenosse Charles Dickens. Nichts entging ihm an Bild des anderen, und das unfreiwillig Komische, das Groteske einer Gestalt mit alle ihren Eigenheiten in Blick, Gebärde und Gang konnte der kleine Chopin so überzeugend darstellen, dass alles lachen und applaudieren musste.
Chopin hatte im Alter von vierzehn Jahren mit seiner Schwester einen Einakter verfasst mit dem Titel „Die Verwechslung oder der vermeintliche Landstreicher“, den er mit seinen drei Schwestern zu des Vaters Geburtstag aufführte. Frédéric und Emilie spielten die Hauptrollen. Auch zeichnerisch war Chopin nicht unbegabt. Mit achtzehn Jahren kam er nach Berlin, wo gerade eine Naturforscher- und Gelehrtentagung stattfand. Der einzige, der ihm in der ganzen Gesellschaft imponierte, war Alexander von Humboldt. Alle anderen empfand er als ausgesprochen komisch. So schrieb er an die Eltern in Warschau: „Die Herren Naturforscher und insbesondere die Zoologen haben sich hauptsächlich mit der Zurichtung des Fleisches, der Saucen, der Bouillons und ähnliche Dinge beschäftigt, haben also in dieser Reihe von Sitzungstagen viele Fortschritte im Essen gemacht.“ An einer anderen Stelle: „Gestern fand das gemeinsame Diner jener (für mich Karikaturen) Gelehrten statt, die ich bereits in drei Klassen eingeteilt habe“. Und sofort fertigt er drei Zeichnungen dieser drei Klassen von Gelehrten an, die er den Eltern nach Hause sendet, damit man daheim etwas zu lachen hat. Schon auf der Hinfahrt nach Berlin hat er sich in der Postkutsche über die Reisegesellschaft lustig gemacht und später nach Hause berichtet: „Das war unsere Companie bis zur letzten Station vor Frankfurt, wo sich uns noch eine deutsche Corina zugesellte, mit vielen Achs und Jas und Neins, kurz, ein richtiges romantisches Püppchen.“ (Chopin der Romantiker!) Auch über die Berlinerinnen mokierte er sich weidlich: „Marylski hat nicht für einen Groschen Geschmack, wenn er behauptet, die Berlinerinnen seien schön. Sie sind aufgeputzt, das ist wahr, doch schade um den verlockenden herrlichen Musselin für solche Lederpuppen.“
Als Chopin in Warschau schon ein gerühmter und bewunderter Pianist ist, schauspielerte er seinen Freunden gern auf dem Klavier etwas vor. Er gibt ihnen „musikalische Rätsel“ auf, indem er auf dem Klavier vor ihnen improvisiert und ausschließlich verlangt, man sollte die Personen oder die Dinge erraten, die er soeben musikalisch dargestellt habe. Meistens macht er diese Portraitstudien im Mazurkaform, in der er gar zu gern portätiert, glossiert und karikiert; ist die polnische Mazurka doch sein musikalisches Idion, in dem er sich am gewandtesten ausdrückt.
Viele Chopin-Interpreten haben den Hang nur höchst persönliche musikalische Zeugnisse seines Seelen- und Lungenleidens herauszuhören. Sie alle haben den Schauspieler und Zyniker Chopin nicht in Betracht gezogen und seinen ihm höchst eigenen Charakter, Mitmenschen und Freunde zuweilen zu düpiren und zu glossieren, ohne dass diese er merkten.
Chopins Schauspielertalent bleib bis zu er Zeit, wo er wirklich todkrank war, also bis 1847, eine seiner gesellschaftlichen Domänen. 1829 parodierte er in Wien bei den Gesellschaften, wo er eingeladen war, gern das Auftreten und Benehmen österreichischer Generäle und hatte damit den gleichen Erfolg wie als Pianist.
Aus seiner ersten Pariser Zeit wird berichtet, dass er in Gesellschaft sehr oft seine Kollegen, die großen Klaviertiger seiner Epoche, im Klavierstil parodierte, „wobei er die Tasten mit extravaganten Gebärden bearbeitete, in einer wilden und romantischen Weise, der er 'auf die Taubenjagd gehen' nannte.“ Er karikierte also den Romantizismus schon zu seiner Zeit, wo dieser in Dichtung, Musik und Musikausübung in höchster Blüte stand. Klavierkollege Moscheles gestand, sehr erstaunt gewesen zu sein über Chopins burleske und komische Ader, als er einem Gesellschaftsabend in Chopins Wohnung beiwohnte, an dem dieser die Pianisten Liszt und Pixis und einen in Paris bekannten buckeligen Klavierdilettanten so täuschend nachahmte, dass alles erschrak und lachte über soviel mimische Genialität. Chopin trieb diese Art von Schauspielerei auch in Gegenwart von Liszt und Balzac, und beide konnten nicht umhin zu gestehen, dass Chopin ein ebenso großer Pianist wie Schauspieler sei.
Der unmusikalische Pariser Schauspieler Bocage meinte sogar einmal: „Schade, dass sich der Junge in die Musik verirrt hat!"
Quellenangaben
"Frédéric Chopin - Ein musikalisches Horoskop", Ludwig Kusche
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