Das zweite Prélude in a-moll hat besonders heftige Reaktionen hervorgerufen, angefangen mit Schumann, der es krankhaft und abstoßend nannte. Der Pianist Jan Kleczynski empfahl (im Jahre 1886) kurzerhand, das a-moll-Prélude seiner Bizarrerie wegen nicht mehr zu spielen (vgl. Tomaszewski, 139). James Huneker nahm Chopin zwar generell in Schutz, er habe selten häßliche Musik geschrieben, dieses Prélude allerdings klinge "verwaist, häßlich und zuweilen grotesk" (S. 185).
Der Chopinforscher Edouard Ganche gibt in einem Beitrag folgende wertvolle Information an:
"Die gespenstisch und erschreckenden Dissonazen in der linken Hand entsprechen genau den Tönen, die von zwei Glocken in manchen Dorfkirchen beim Totengeläut hervorgebracht werden. Eben das ist der Charaker dieses Préludes: es wirkt wie eine Totenklage, ein Totengeläut, ein Erschrecken über die misstönende Welt."
Es zeichnet in seinen sumpfigen, schlangenhaften Windungen die tiefste Depression, Willeby findet eine Ähnlichkeit mit dem Thema des ersten Nocturnes darin. Welches Thema ist das! Die Tonalität ist nebelhaft, beginnt in e-moll. Chopins Methode des thematischen Parallelismus ist hier sehr klar. Eine kleine Figur wird in absteigenden Linien wiederholt, ist hoffnungslose Finsternis und trotzige Melancholie, die in den letzten Akkorden erreicht wird. Dieser Chopin ist gewiss morbid. Eine Abneigung gegen das Leben macht ihn in dieser Musik zu einem wahren Lykanthropen. Eine Selbsthypnose, eine geistige Leere und Gefühlsatrophie kommen in der Komposition zum Ausdruck.
Chopin knüpft in diesem a-moll Prélude an Bachs zweites Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier an. Bachs Präludium ist ein typisches
moto-perpetuo-Stück: Eine gleichbleibende Figur
wird darin in ununterbrochener Wiederholung durch die Harmonien geführt. Chopin
zitiert dieses moto-perpetuo-Motiv, verzerrt es dabei aufs äußerste: Er verlangsamt es,
stellt es metrisch um, verlegt es in ein dunkles Klangregister, und vor allem bettet er es in
harmonisch schwer zuordenbare Zweiklänge ein.
Das Prélude scheint auf E als Grundton oder Tonika zu beginnen, es wechselt erst nach
G, dann nach H, und spätestens in den anschließenden ätzenden Dissonanzen hat man die
Orientierung verloren, es wird immer unklarer, in welchem tonalen Raum man sich
eigentlich befindet. Mit diesem Taumeln in tonartlich nicht bestimmbaren Regionen
gerät auch die anfangs kontinuierliche Bewegung immer mehr ins Stocken und setzt
schließlich ganz aus. Die kurze Schlußformel behauptet einen Grundton A, der dem Stück
jedoch so wenig wie ein anderer zugrundegelegen hat.
Der Charakter dieser harmonischen und rhetorischen Strategie wird im Vergleich zu
Bach deutlicher: Für Bach ist die Tonika ein Grundton im emphatischen Sinne. Zwar
schreibt auch er jede Menge Dissonanzen, aber diese sollen letztendlich diesen Grundton
bestätigen und bekräftigen. Bachs Präludien und Fugen demonstrieren in ihrer harmonischen
Rhetorik die tonale und tonikale Ordnung, es sind musikalische Traktate, an deren
Ende jeweils die Formel stehen könnte:
Quod erat demonstrandum
. Den Modellfall eines
solches Beweisgangs liefert das Anfangsstück des
Wohltemperierten Klaviers
, das erste Präludium
in C-Dur.
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