Die Nocturnes - Die Nacht und ihre Melancholie
Die Nocturnes machten Chopin einem breiten Publikum bekannt. Ihnen verdankt er einen guten Teil seines irdischen Ruhmes, aber auch das einzigartige Handicap eines tränenseligen Nachruhmes. Romantisch und anmutig in Stil und Ausführung, gehören die Nocturnes zu Chopins berühmtesten Werken. Die Übersetzung "Nachtstück" ist ihrer träumerischen Atmosphäre durchaus angemessen. Nicht selten enthalten sie einen lebhaften Mittelteil, der dem jeweiligen Stück Gewicht und Vollendung verleiht. Neben der Betonung des Emotionalen zeigen sie eine geradezu anmutige Sicherheit, die - zusammen mit Leidenschaft, Dramatik und manchmal sogar Erhabenheit - Beweis für ihren musikalischen Rang ist.
Der Vorgänger: John Field
John Field wird als der Vorgänger Chopins betrachtet. Der klare Stil dieses Schülers und Freundes Clementi, sein schöner Anschlag und seine vollendete Technik sind von dem Polen gewiss bewundert und nachgeahmt worden. Fields Nocturnes werden jetzt jedoch vernachlässigt, so seltsam sind die Launen der Zeit, und dies geschieht ganz grundlos. Ist doch Field nicht bloß der Schöpfer der Form. Er hat ja in seinen Konzerten und Nocturnes wunderbar süße und gesunde Musik geschrieben.
Der Irländer hatte bei einem Pariser Konzert im Jahre 1832 "eine unbeschreibliche Begeisterung" entfesselt, wie wir von Francois-Joseph Fétis, einem belgischen Musiktheoretiker, wissen. Marmontel, ein Komponist und Pianist, schildert ihn als Nacheiferer Falstaffs, „umgeben von Krügen und Flaschen“, bei seinem öffentlichen Auftreten jedoch als Mondscheinspezialisten. John Field schrieb achtzehn Nocturnes. Er hatte die Idee, die Nocturnes, unter denen man ursprünglich nächtliche Blasmusikständchen, späterhin auch Serenaden für Streicherinstrumente verstand, als erster auf das Klavier anzuwenden und hat sie zu lyrischen Träumen umgewandelt. Sie sind die pianistische Version des Belcanto mit der dazugehörigen Effekthascherei: arpeggierten Akkorden, Verschnörkelungen, großen Schauern und falschem Pathos.
Wohl hat Field selbst Chopin ein wenig von oben herab angesehen, denn er besaß kein Verständnis für seine melancholische Pose. „Er ist ein Krankenhaustalent“, grollte Field in den Zwischenpausen, die er beim Weintrinken, beim Rauchen seiner Pfeife und beim Wäschewaschen machte. Die letzte sparsame Gewohnheit hatte er von Clementi angenommen. In seiner Ansicht war ja etwas Richtiges. Chopin zeigte sich nie von übersprudeltem Frohsinn, ist immer niedergedrückt und traurig gewesen, hat in vielen seiner Nocturnes geklagt. Diese bewundernswürdigsten Kompositionen sind mit Ausnahme der Walzer manchmal auch seine schwächsten Werke. Doch hat er die Form veredelt, die Field erfunden, verlieh ihr dramatische Breite, Leidenschaft, selbst Größe. Sie sind aber sehr auch lebendige, zuweilen von Angstvorstellungen und Fieberwahn durchrüttelte Schilderungen seelischer Erlebnisse. Im Allgemeinen bewegen sich jedoch dieses Nachtstücke unseres Meisters in dichterischer Atmosphäre und sanft-milder Stimmung.
Nächtliche Geheimnisse
Chopin übernimmt das Nocturne, läutert es und gibt ihm sogleich, was ihm bis dahin fehlte: einen Inhalt. Es wird zum musikalischen Ausdruck von Seelenzuständen. Doch das feste Gefüge, wie etwa beim Scherzo, dem Impromptu oder der Ballade, fehlt hier - es ist eher ein Sichverströmen, ein Hineingleiten in ein schwebend-unbestimmtes Lebensgefühl. Der Hauptreiz liegt nicht wie bei den Impromtus im Virtous-Spielerischen, sondern im Gesangvollen. Hier ward Chopin wahrhaft zum Poeten der Melodie, zum Meister der Klavierkantilene. Im Bilden und Entwickeln weiträumiger, mit lebendigem Audruck erfüllter, klaviergerechter, also den Gesetzten des Klaviertons entsprechender, gleichsam aus dem Instrument herausgeborener Melodie ist Chopin unerreicht.
Chopin liebte die Nacht und ihre sanften Geheimnisse wie Robert Louis Stevenson, und seine Nocturnes sind echte Nachtstücke, manche in unruhiger, reuiger Nachdenklichkeit, andere in undeutlicher Profilierung, viele sind das Flüstern in der Dämmerung. Die meisten Nocturnes werden feminin genannt, eine Bezeichnung, die psychologisch unzutreffend ist. Das poetische Moment in der Seele männlicher Genies ist ausgesprochen feminin. Und in Chopin war die feminine Note übermäßig betont – zeitweilig sogar hysterisch - , besonders in diesen Nocturnes.
Ganz hat ja Chopin die Klippe der Herzensergießungen in der Dämmerstunde, der Abendklänge und der empfindsamen Seelenhaftigkeit nicht vermieden. Diesen Tribut musste er seiner Zeit entrichten. Dem entgehen auch späterhin weder Faure noch der frühe Debussy, noch selbst der Ravel der „Pavane“. Sollen wir die Nocturnes deshalb unbesehen und ausnahmslos verwerfen? Darf man einen Künstler willkürlich aus seiner ureigensten Stimmungswelt herauslösen, ihn etwa (man denke an einen Proust) von seinen Fetischismen trennen? Jeder noch hatte einen bestimmten Kult: Chopin die Abenddämmerung, Wagner den Wald, Debussy das Meer, Ravel die Herbststimmungen. In Polen heißt die Dämmerung die „graue Stunde“: es ist der Augenblick, da alles verfließt, zerrinnt, erlischt - die Welt Ariels.
Darüber hinaus hat der Begriff für Chopin und Marie Wodzinska noch eine besondere Bedeutung: um sie ihm in Erinnerung zu rufen, unterzeichnet Gräfin Wodzinska so ihre Briefe. Es ist die Stunde des Sicherklärens, zugleich aber auch jene, da der Bund besiegelt wird.
So ist das Nocturne Erinnern, Rückblick auf vergangene Tage voller Liebesgeflüster, eine bewegte Variation über die „Mainacht“. Chopins Anhänglichkeit an diese Art Nachhall einstiger Erlebnisse erscheint hier, gewissermaßen in freimütiger, ungezwungener, vertraulicher Aussprache, als Ausgleich zu seiner sonst oft so entsagungsvollen, mit Ironie gewürzten Verhaltenheit. Noch stärker ist dieses Bedürfnis, freimütig reden zu können, im Larghetto des Klavierkonzerts in f-moll spürbar. Hier ist die Atmosphäre noch inniger und geheimnistiefer. Das Nocturne ist bei Chopin gleichsam der innerste Hof einer sonst anspruchsvollen, überaus keuschen Seele, die sich der befreienden Nacht öffnet. Und es ist, für den Musiker, der es sich nicht leicht macht, das freie Spiel unter Sternen.
Doch wir sprachen von Kulten und ihrem Ritual. Auch die Abende und Nächte in Nohant hatten ihre Riten, die z. B. vorschrieben, dass die Lampen gelöscht wurden und jeder schwieg, als wäre er plötzlich auf diese Sphärenmusik gestimmt. Berlioh schrieb:
„Wenn die Riesenfalter des Salons davongeflattert waren, wenn den Lästerzungen keine neuen Anekdoten mehr einfielen, wenn alle Fallen ausgelegt waren und niemand zu verleumden blieb, kurz, wenn man der Prosa wirklich müde war, dann gehorchte Chopin dem bittenden Blick schöner Augen und wurde zum Poeten.“
Man darf die Nocturnes nicht aus diesem Zusammenhang herausnehmen: dem romantischen Milieu, der Gefühlswelt zart besaiteter Seelen.
Die Schotten haben ein Sprüchlein: „Sie webte sich ihr Leichenkleid und trug es selbst lebenslang“. In den Nocturnes ist das Leichentuch nie ganz fern. Chopin hat sich sein Totenkleid lebenslang bis zu seinem Tode gewebt, und er trug es zuweilen, wenn auch nicht immer, wie so viele denken
Übersicht zu den Werkanalysen der Nocturnes
Quellenangaben
- "Chopin, der Mensch, der Künstler", James Huneker
- "Chopin - Eine Biographie", Walter und Paula Rehberg
top | zur Übersicht
|