Frédéric Chopin - Franzose oder Pole?
Da Chopins Vater Franzose war und seine Mutter aufgrund der Heirat zusätzlich zu ihrer polnischen auch die französische Staatsangehörigkeit erhalten hatte, war Chopin gemäß der damals gültigen Rechtsordnung ebenfalls Franzose. Außerdem besaß er, da er im Herzogtum Warschau geboren war, die polnische Nationalität und einen polnischen Pass. Er hat im Laufe seines Lebens auch keine dieser beiden Staatsangehörigkeiten abgegeben, so dass er später in Frankreich kein Emigrant im eigentlichen Sinne war, obwohl er sich zumindest in den ersten Jahren seines Pariser Aufenthaltes als ein solcher fühlte, nach außen hin den Status als Emigranten pflegte und auch überwiegend in Emigrantenkreisen verkehrte.
Danke diesen ständigen engen Kontaktes mit den Emigranten fühlte sich Chopin
in Paris nicht einsam: Er fand hier einen wichtigen und kostbaren Teil seiner
Heimat. Mit anders ausgerichteten Gefühlen und einer anderen Erziehung hätte
er gewiss auch andere Gründe gefunden, sich in Frankreich heimisch zu fühlen -
immerhin war dieses Land die Heimat seiner Vorfahren väterlicherseits, weswegen
er selbst auch einen französischen Namen trug; in Marainville wohnten sogar
zwei seiner Tanten, leibliche Schwestern seines Vaters. Offensichtlich erweckte
jedoch weder diese Tatsache noch die Gebealogie Fryderyks Interesse - sofern ihm
dieser Sachverhalt überhaupt bekannt war: Schließlich hatte Nicolas Chopin
nachdem in seiner Jugend nach Polen ausgewandert war, jeglichen Kontakt zu den
lothringischen Chopins abgebrochen (wie es die andere Seite bereits getan
hatte). So gab es zwischen ihm und der Familie nun schon seit vielen Jahren
keinerlei Verbindungen mehr, ja nicht einmal mit Frankreich. In Chopins Familie
in Warschau wurde über dieses Thema nicht gerne gesprochen.
In jedem Fall hatte Fryderyk nach seiner Ankunft in Frankreich nicht das
Bedürfnis, Konsequenzen aus der französischen Abstammung seines Vaters zu
ziehen und seine unbekannten Verwandten aufzusuchen. Wie viele andere war er als
Pole hier hergekommen, und in seiner Sprache, seinen Gedanken, Gefühlen und
Vorlieben unterschied er sich nicht von den anderen polnischen Emigranten, mit
denen er sich identifizierte - und das bis zum Ende seines Lebens. Auch seine
französischen Bekannten haben ihn stets als Emigranten gesehen - schon ein
kurzes Gespräch genügte, um zu hören, dass er Ausländer war. Fryderyk sprach
fast fließend, aber keineswegs perfekt Französisch; seine Fehler (die er auch
in späteren Jahren beibehielt) und sein Akzent verrieten sofort seine Herkunft.
Er strich seine Nationalität auch energisch heraus, und sein Name (der von den
Polen auf der ersten Silbe betont und mit hartem n am Ende ausgesprochen wird)
konnte niemanden täuschen.
Die Korrespondenz des Vaters mit dem Sohn wirft allerdings einige Fragen auf:
Mikolaj - der das Polnische besser beherrschte als sein Sohn Französisch .
verfasste alle Briefe an Fryderyk in der Sprache seiner Vorfahren. Vielleicht
wollte er den in Paris lebenden Sohn dazu anregen, sich an seiner Abstammung zu
"erinnern" und möglicherweise Vorteile daraus zu ziehen? Doch diese Briefe,
die voll sind von väterlichen Ratschlägen, enthalten nichts Derartiges - ganz
im Gegenteil. Es scheint vielmehr, als habe sich der inzwischen sechzigjährige Französischlehrer
das Vergnügen nicht nehmen lassen, nach so vielen Jahren Briefe in seiner
Muttersprache zu schrieben. Um so mehr, da er genau wusste, dass Fryderk noch
weit davon entfernt war, diese Sprache, die für ihn unumgänglich geworden war,
perfekt zu beherrschen. In der Hoffnung, dass die Korrespondenz seinem Sohn
etwas helfen würde, schickte Mikolaj regelmäßig lange Briefe an seinen Sohn,
die in einem elaborierten und komplizierten Französisch mit vielen eleganten
und literarischen Wendungen geschrieben waren, Briefe, die außer versteckter
Sprachdidaktik auch viele typische väterliche Belehrungen und Ratschläge
enthielten. Die Korrespondenz auf Französisch blieb jedoch einseitig, denn
Fryderyk beantwortete die Briefe ausschließlich auf Polnisch.
Die doppelte nationale Zugehörigkeit beeinflusste Chopin in seinem ganzen Leben. Und selbst nach seinem Tod erhielt dieser Umstand noch einmal eine besondere Bedeutung: Sein Körper wurde zwar in Paris bestattet, sein Herz wurde jedoch - auf Wunsch des Verstorbenen folgend - vor der Bestattung dem Leichnam entnommen und nach Warschau überführt.
Die Frage der Nationalität war für ihn somit nicht nur eine juristische Angelegenheit - sie prägte auch seinen Charaker, und zwar mit Wirkung bis über seinen Tod hinaus.
Quellenangaben
(Textauszug aus "Chopin, Sein Leben, sein Werk, seine Zeit", Tadeusz A. Zielinski, ISBN 3-7857-0953-6)
(Textauszug aus "Frédéric Chopin, Briefe und Zeitzeugnisse", Hans Werner Wüst, ISBN 3-8311-0066-7)
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